Macht queer seine* Straßen

// Predigt zum ökumenischen CSD-Gottesdienst in München am 24. Juni 2023

von Nathalie Schuler, Theologiestudent*in, alt-katholische Gemeinde St. Willibrord;

Predigttext: “Johannes der Täufer” aus Johannes Kapitel 1, Verse 19-28;

Liebe Geschwister,

vor Jahren, als ich mit Kirche und Glauben noch nicht so viel anfangen konnte, waren ein guter Freund und ich uns einig, dass der CSD für uns der höchste Feiertag im Jahr ist. Ich kann auch immer noch nachvollziehen, wie wir das gemeint haben. Die Vorfreude und Vorbereitung, das Erlebnis von Gemeinschaft, die Hoffnung und Erinnerung, die mit diesem Tag verbunden sind, haben mit religiösen Festen Einiges gemeinsam. Jeden Sommer gehen queere Menschen auf der ganzen Welt auf die Straßen und erinnern an ein Ereignis, das unsere Geschichte verändert hat: Am 28. Juni 1969 gab es eine Polizeirazzia im New Yorker Stonewall Inn, einer Bar, die für viele schwule Männer, trans* Frauen und Dragqueens ein Zuhause war. Aber was in jener Nacht anders war als in allen anderen Nächten, war die Entscheidung mutiger queerer Menschen, sich diese Gewalt nicht mehr bieten zu lassen. Wegbereiter*innen wie Marsha Johnson und Sylvia Rivera gelang es, sich Gehör zu verschaffen. Dem abwertenden Blick, den große Teile der Gesellschaft auf sie hatten, stellten sie ihr Selbstbild gegenüber – ihr eigenes Bewusstsein ihrer Würde und eine Freiheit, die ihnen niemand nehmen konnte.

„Wer bist Du, was sagst Du über Dich selbst?“ wird Johannes der Täufer im heutigen Evangelium gefragt. Die Frage: „Wer bist Du?“ meint immer auch: Wo ist Dein Platz in der Welt? Wie passt Du in die Normen und Erwartungen, die schon da waren, lange bevor Du da warst? Dabei ist Johannes mit seinem Gewand aus Kamelhaaren, der sich in der Wüste von Heuschrecken ernährt und Umkehr predigt, zu seiner Zeit gar keine ganz so schräge Figur, wie er uns heute erscheint. Asketische Wanderprediger*innen gab es auch andere. Johannes aber eckt mit seiner Kompromisslosigkeit an. Unerhört und unüberhörbar ist seine Botschaft vom Reich Gottes, das für ihn so nahe ist, dass es im Wüstenstaub, im Wasser der Taufe und in der Begegnung mit Jesus von Nazareth schon zu greifen ist. Die Priester aus Jerusalem versuchen, für dieses irritierende Auftreten eine passende Kategorie zu finden: „Bist Du der Prophet?“ Und offensichtlich machen sie sich Sorgen, wie sie ihr Erlebnis mit ihm den anderen verständlich machen sollen, die ebenfalls eine Erklärung fordern.

Queere Menschen kennen die Frage nach der eigenen Identität. Wir haben sie uns selbst gestellt und sie von anderen gehört, mal von ehrlichem Interesse geleitet, mal auf eine Art, die uns in die Enge treiben will. Denn Queerness hat ja nicht allein mit Begehren zu tun, sondern auch mit unserem Sein. Viele von uns haben die Erfahrung gemacht, nicht in vorgegebene Schubladen zu passen. Und wer nicht einfach die vorgezeichneten Wege gehen kann, sondern eigene finden und bahnen muss, steht häufiger vor der Frage: Wer bin ich eigentlich? Und wie kann ich über mich selbst sprechen, so dass es sich richtig und wahr anfühlt?

„Was sagst Du über Dich selbst?“ Johannes antwortet: „Ich bin die Stimme eines Rufers in der Wüste: Ebnet den Weg für den Herrn!, wie der Prophet Jesaja gesagt hat.“ Johannes antwortet auf die Frage nach seiner Identität also mit der Geschichte, zu der er gehört. Schon der Prophet Jesaja hat sein Auftreten vorhergesagt. Das bedeutet: Gott selbst hat ihm Ort und Zeit gegeben, um an ihrer* Welt mitzuwirken. „Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in Dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war“, so haben wir vorhin mit Psalm 139 gebetet. Das ist auch Johannes’ Erfahrung: Ein guter Gedanke Gottes zu sein und deswegen eine Stimme zu haben, die gehört werden muss. Denn Johannes ist nicht nur für sich selbst da. Er ist da, um den Weg für Gottes Gegenwart unter den Menschen zu bahnen. Sein ganzes Leben widmet er mit Hingabe dieser Arbeit: Steine aus dem Weg des Evangeliums zu räumen. Steine in Form von Gleichgültigkeit, Steine in Form von Angst vor einem fernen Gott, versteinerte Erwartungen, wie eine Begegnung mit Gott auszusehen hat. Johannes weiß, dass nach ihm jemand kommen wird, dessen Handeln noch weit größere Bedeutung haben wird als sein eigenes. Zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Jesaja und Jesus, zwischen der Weisheit Gottes am Beginn aller Zeit und dem Reich Gottes als Vollendung der Zeit, sieht Johannes seine eigene, einmalige Existenz. 

Das wäre doch mal eine Antwort, wenn wir das nächste Mal gefragt werden, wer wir sind. Zumindest aber ist es etwas, was wir uns selbst immer wieder sagen sollten, denn auch wir sind von Gott gewollt und in die Geschichte eingebettet. Queere Menschen vor Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sehnsüchtig in die Zukunft geblickt, die jetzt unsere Gegenwart ist. Sie haben gehofft und zum Teil unter Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft, dass jemand einmal so frei sein kann, wie wir es sind. Eine queere Antwort auf die Frage „Wer bist Du?“ könnte deshalb lauten: Ich bin der kühnste Traum derer, die vor mir dagewesen sind. Ich bin der, von dem gesagt wurde: Er wird selbst entscheiden können, was es für ihn bedeutet, ein Mann zu sein. Ich bin die, von der es hieß: Sie wird mit ihrer Frau und ihren Kindern in Frieden leben. Ich bin ein Mensch, der sich von der Liebe leiten lässt, wie uns verheißen wurde. 

Queere Menschen vor uns haben einander geliebt, haben Gott geliebt und sind von der Liebe Gottes dazu bestärkt worden, ihre Einzigartigkeit nicht aufzugeben. In ihrer ganz konkreten, alltäglichen Zärtlichkeit, Treue und Solidarität ist das Reich Gottes zum Greifen nahegekommen. Die Liebe macht uns zu denen, die wir sind, und sie ist heilig, weil sie uns mit Gott und miteinander verbindet. Gemeinschaft der Heiligen bedeutet für mich genau das: eine Zugehörigkeit, in der all unsere individuellen Ecken und Kanten gut aufgehoben sind. Im Heiligenkalender der anglikanischen Kirche wird am nächsten Samstag an Pauli Murray erinnert. Pauli war queer und Schwarz, Jurist*in, Dichter*in und Priester*in und hat mit unermüdlichem Einsatz seit den 30er-Jahren dafür gekämpft, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen. Die großen Durchbrüche für die Rechte von People of Color, Frauen und trans* Menschen in den USA wären nicht denkbar ohne die wegweisende Arbeit dieses zutiefst auf Gott vertrauenden Menschen. In München denken wir in diesem Jahr besonders an Leo Volleth, der den CSD-Gottesdienst hier in St. Lukas mit ins Leben gerufen hat und der im März verstorben ist. Leo war ein Wegbereiter für uns alle. Er bleibt Teil unserer Gemeinschaft, wenn wir hier zusammenkommen und Eucharistie feiern. Ich erzähle von diesen Menschen, die nur zwei von unfassbar vielen sind, weil in ihren Lebensgeschichten eine Hoffnung aufleuchtet, die nicht in Vergessenheit geraten darf. Pauli, Leo und viele andere haben Steine aus dem Weg des Evangeliums geräumt, indem sie queeren Menschen gezeigt haben, dass sie von Gott geliebt sind und ein gutes Leben verdienen.

In Dankbarkeit an die Menschen zu denken, die uns vorausgegangen sind, bedeutet auch, sich der eigenen Verantwortung bewusst zu werden. Noch immer ist für Queers längst nicht alles zum Besten bestellt, noch immer gibt es reaktionäre Stimmen in den Kirchen, Alltagsdiskriminierung und Gewalt. Wenn wir für einen Queeren Aktionsplan eintreten und für ein Selbstbestimmungsgesetz, das seinen Namen verdient, wenn wir verhindern, dass bereits erstrittene Rechte wieder zurückgenommen werden, sind wir selbst Wegbereiter*innen für andere. 

Wer bist Du, was sagst Du über Dich selbst? Ich bin verschwindend klein in der großen Menge von Gottes wunderbar geschaffenen Menschen. Nach mir werden andere kommen, die freier und lebendiger sein werden, als ich es mir vorstellen kann. Ich habe Umwege und Durststrecken hinter mir. Aber ich bin einer Liebe begegnet, für die ich leben muss, um sie weiterzugeben. Ich kann das Wasser noch funkeln sehen, mit dem ich getauft wurde und habe das Wort noch im Ohr, das mich mit neuem Leben erfüllt hat. Ich will tun, was ich kann, damit die Wege bereit sind, die Gott mit anderen Menschen gehen will. Ich will Gottes Straßen queer machen, damit meinen Geschwistern nichts im Wege steht: Keine Angst, keine Armut, keine unterdrückenden Gesetze und keine einengende Deutung von Gottes Wort. Ich will Gottes Straßen queer machen, damit die Kreativität und Hingabe, die queere Menschen der Welt zu bieten haben, sich voll entfalten können.

Wenn wir gemeinsam verwirklichen, was andere für uns erträumt haben, ist das Himmelreich ganz nahe. Und die barmherzige Liebe unseres Gottes lenke unsere Schritte auf den Weg des Friedens. Amen.

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