“Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt” – Predigt von Michael Brinkschröder im queerGottesdienst am 13. Dezember 2020

// „Tröstet, tröstet mein Volk!“ – so beginnt der Teil des Jesaja-Buches, der meist als Deuterojesaja bezeichnet wird. Mitten in der tiefen Krise des babylonischen Exils deutet dieser Deuterojesaja die Zeichen der Zeit neu.

Er erkennt, dass die weltpolitische Großwetterlage sich dreht und die Babylonier nicht länger die Herrscher sein werden, sondern die Perser. In deren König Kyros sieht er sogar den von Gott gesandten Messias. Sein Auftreten soll den Umschwung bringen, deshalb schöpft der Prophet neue Hoffnung: Das Volk der Judäer_innen wird nach etwa 50 Jahren im Exil in seine Heimat zurückkehren können. Dies ist wahrlich eine frohe Botschaft für die Armen und für die, deren Herz zerbrochen ist; für die Gefangenen und die Gefesselten, die jetzt befreit werden: ein Gnadenjahr! Und wenn sie dann angekommen sind am Zion, dem Ziel ihrer Sehnsucht, wird es ein großes Fest geben. Dazu werden sich alle Leute schmücken und festliche Gewänder anziehen – wie bei einer Hochzeit.

Schon nach nur einem Jahr mit der Corona-Epidemie können wir wohl alle nachempfinden, wie es sich anfühlt, wenn man sich kollektiv nach Erlösung sehnt. So viele Kranke, so viele Tote in Deutschland und weltweit; übervolle Intensivstationen; das soziale Leben wurde erst langsam und wird ab Mittwoch  ganz heruntergefahren: Weihnachten im Lockdown. 

Wo bleibt da das Fest? Kein Weihnachtsmarkt, kein Glühwein, also keine Vorfreude dieses Mal. Vielleicht nicht einmal ein Familienfest: keine Geschenke und kein Leuchten in Kinderaugen. Als die in der Lesung prophezeiten „Gewänder des Heils“ entpuppen sich in dieser Situation noch am ehesten die Masken, die wir über Mund und Nase tragen. Denn dieses Stück Stoff oder Papier hilft immerhin mit, das Unheil zu reduzieren, das sich unsichtbar durch die Luft verbreitet.

Weihnachten gleicht schon lange einem Bild, um das Jahr für Jahr in der Adventszeit ein immer prachtvollerer Rahmen gelegt wird. Der Rahmen wird immer goldener, glänzender und verlockender. Das Bild selbst wird dagegen kaum noch wahrgenommen. Aber dieses Jahr hat der Rahmen plötzlich einen Sprung, das Gold blättert ab und es macht gar keinen Spaß mehr ihn anzuschauen. Das ist zwar nicht schön, aber es gibt uns die Chance wieder genauer auf das Bild zu schauen, das doch eigentlich im Mittelpunkt stehen und durch den Rahmen zur Geltung gebracht werden soll.

Was ist zu sehen auf diesem Bild? Der Heiland, der Messias, der Retter – heißt es. Was möchten wir sehen? Den Retter, der uns das Heil bringt und uns aus dieser Pandemie endlich erlöst? Den Messias, der unserer Isolation, unseren kleinen Wehwehchen und großen Schmerzen ein Ende setzen könnte?

Wenn ich mir diese Fragen nach dem Messias im Jahr 2020 stelle, dann fällt mir unweigerlich das deutsch-türkische Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci ein, das die Firma BioNTech gegründet und jetzt einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt hat. Sie haben viele Jahre in die Forschung für ein neues Krebsmittel investiert und Anfang dieses Jahres sofort erkannt, dass ihr Ansatz es auch möglich machen könnte, einen Impfstoff gegen das Corona-Virus zu entwickeln. Sie haben trotz aller Schwierigkeiten an ihre Vision geglaubt. In wenigen Tagen wird ihr Impfstoff nun gespritzt. – Für einen Messias im Jahr 2020 ist das Paar vielleicht keine schlechte Wahl, wenn denn mit den Impfungen alles gut geht und die Epidemie wirklich an ein Ende kommen sollte. Es wäre eine große Erleichterung, für viele sicherlich sogar eine Rettung.

Aber es wäre wohl eine Überforderung für dieses Paar, wenn wir all unsere Sehnsüchte und Hoffnungen auf sie und ihren Impfstoff richten würden. Nicht nur, weil es da auch noch andere Anbieter gibt, die am Ende vielleicht erfolgreicher sein könnten, sondern vor allem, weil es jeden Menschen überfordern würde, wenn er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen müsste.

Es würde wahrscheinlich enden wie in dem Film „Bruce Allmächtig“, wo Bruce von Gott die Aufgabe übertragen bekommt, sich um alle Gebete und Bitten der Menschen zu kümmern. Bruce denkt zunächst, dass sei ganz leicht. Aber als er merkt, wie viele Bitten bei ihm aufschlagen, steigert er sich immer mehr in einen Arbeitsrausch. Nach kurzer Zeit ist er erschöpft und entnervt wirft er die Brocken hin. Bei den Menschen auf der Erde geht es danach drunter und drüber. – Also steigern wir uns besser nicht in einen neuen BioNTech-Kult hinein! Es reicht schon, wenn Bill Gates von den Querdenkern in den letzten Wochen zu einer Art Antichrist stilisiert worden ist – von Querdenkern, die ihre Rettung gerade darin sehen, sich auf keinen Fall impfen zu lassen. Corona beschwört also nicht nur die Sehnsucht nach Erlösung, sondern auch den Streit um die wahre Erlösung herauf.

Im Evangelium von heute wird auch Johannes der Täufer zwischen den Zeilen mit der Frage konfrontiert, ob er vielleicht der Messias sein könnte. Doch er antwortet zurückhaltend in Bezug auf sich selbst: „Ich bin nicht der Messias.“ Auch nicht Elija und nicht „der“ Prophet, Mose. Ich bin lediglich, so sagt er über sich, die Stimme, die in der Wüste ruft und die Welt dazu aufruft, sich für den Messias bereit zu machen. 

Dazu gibt der Täufer noch einen wertvollen Hinweis: „Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt“. Der Messias ist also schon da, bloß kennt ihn noch niemand. Vielleicht erkennt ihn niemand. Inmitten all des aufgeregten Treibens inmitten der Corona-Pandemie könnte dies ein wichtiger Hinweis für uns sein: Der Messias ist schon da. Er ist mitten unter uns. Vielleicht ist es dein Nebenmann oder deine Nebenfrau, dein Nachbar oder deine Kollegin, die für DICH eine Erlösung bringt. Zum Beispiel, weil sie dich ansprechen und einen Plausch beginnen, oder weil sie bei jemand anderem ein gutes Wort für dich einlegen, oder weil sie dir bei etwas helfen. Unter Umständen merken sie gar nicht, dass sie damit in deinem Leben ein Licht angezündet haben und dazu beigetragen haben, dass die eingefahrenen Gleise eines Lebens ein klein bisschen verschoben worden sind und eine neue Richtung einschlagen können. Und vielleicht – hoffentlich! – geht es anderen mit uns ja genauso.

Da macht es dann gar keinen so großen Unterschied mehr, ob einer dieser Mitmenschen vielleicht tatsächlich der Messias ist oder ob er oder sie lediglich Zeugnis ablegen für das Licht. Jede Kerze am Adventskranz – auch wenn sie noch so klein ist – macht die Welt ein bisschen heller und das können wir auch. 

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