Predigt von Kardinal Marx zum 20-jährigen Bestehen des queerGottesdienst München am 13. März 2022 in St. Paul. Transkription von Franz Harant, Linz

// Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Liebe Brüder und Schwestern!
Braucht es die Kirche noch? Wir haben eben davon gehört, wie sehr auch manche aus Ihrer Gemeinschaft sagen, das reicht jetzt. Das ist jetzt gut. Und wie viele Briefe ich bekomme. Alleine im letzten Monat. Mit einem Abschiedsgruß sozusagen. Manche auch mit dem Hinweis, ich bleibe gläubig, aber diese Kirche, wie sie ist, kann ich nicht unterstützen, kann ich nicht akzeptieren. Das ist etwas, was mich natürlich tief bewegt. […] Ich werde allen Einzelnen auch antworten. Aber jede bekommt und jeder bekommt eine Antwort.

Aber es gibt auch die anderen, die schreiben, so wie wir es eben gehört haben: Jetzt erst recht. Wir brauchen diesen Ort der Hoffnung. Die Kirche, die Institution, die durch die Geschichte hindurchgegangen ist und weitergeht, hat viele Grenzen, auch Schuld auf sich [geladen], in vielen Personen und handelnden Menschen. Das ist klar. Aber wir brauchen diese Gemeinschaft, um einen Ort der Hoffnung zu setzen, in einer Welt, die tatsächlich [bedroht] und gefährdet ist. Und diese Hoffnung – und deswegen sind Sie hier – auch 20 Jahre hier versammelt – diese Hoffnung kann uns niemand stärker geben, als der Mann aus Nazaret mit seinem Projekt.

Ich habe dies in meinem Hirtenbrief geschrieben: Das Projekt des Mannes aus Nazaret ist größer als die Kirche, ist größer als wir. Und das geht weiter und wir machen weiter mit. Dazu brauchen wir einander. Auch wenn wir Spannung erleben, wenn wir aneinander leiden, wenn wir miteinander leiden und die Kirche, die Gemeinschaft, nicht so ist, wie wir sie erträumen. Wir selber sind nicht so, wie wir sein möchten. All das ist eine Herausforderung. Aber die Botschaft, dass wir die Hoffnung brauchen, gerade in diesen Wochen des Krieges, wird mir das immer wieder bewusst. Und dann spüren wir, was uns eigentlich im Tiefsten Jesus von Nazareth sagen wollte.

Darum geht es ja immer wieder, in den Brüchen und Aufbrüchen der Kirchengeschichte zu sehen. Können wir das freilegen? Können wir das neu entdecken? Was hat sich darübergelegt? Was ist an Verkrustungen da? Was ist an Traditionen da, die alle einmal ihren Sinn hatten. Aber jetzt stören sie. Nicht mehr das freilegen, was eigentlich von ihm gewollt war. Das ist ein permanenter Prozess, eine permanente Dynamik, zu der wir aufgerufen sind. Und eines, das mir in den letzten Jahren immer deutlicher geworden ist, klar, die Botschaft, die ihn umtrieb, ist nicht, einen Katechismus zu schreiben, sondern die Botschaft vom Reich Gottes. Als er aus der Wüste kommt und dann anfängt zu predigen, beginnt er damit, vom Reich Gottes zu sprechen, das jetzt beginnt, jetzt anfängt. Aber vollendet wird.

Aber es ist keine vergebliche Hoffnung. Das ist keine Illusion. Das ist kein Traum. Das ist keine Spekulation. Das Reich Gottes beginnt – jetzt – erfahrbar. Vierzig, fünfzig Bildworte und Gleichnisse erzählt er vom Reich Gottes. Das heißt von der Wirklichkeit Gottes unter uns. Wie Menschen einander begegnen; wenn Menschen gespeist werden; wenn die Sünden vergeben werden; wenn die Kranken geheilt werden; wenn aufgerichtet wird; wenn ein Fest gefeiert wird; wenn eine Hochzeit gefeiert wird. Bilder ohne Ende. Bilder ohne Ende, um deutlich zu machen, Gott wirkt jetzt. Natürlich wissen wir, dass das noch nicht das Ganze ist, dass wir durch Krankheit und Tod hindurch gehen müssen, dass Geschichte der Menschheit nicht zu Ende ist. Aber das Reich Gottes bedeutet nicht, es beginnt erst im Himmel. Die Bergpredigt, das sechste bis achte Kapitel des Matthäusevangeliums, spricht von der Gegenwart, nicht von der Zukunft. Erst recht nicht von der Zukunft nach dem Tod, sondern von der Gegenwart jetzt. Das ist die Hoffnung, die wir zu bezeugen haben, die wir zu leben haben, die wir miteinander teilen. Nein, es geht nicht darum vom Himmel zu reden im Sinne, wenn wir tot sind, haben wir noch eine Hoffnung, da ist noch was. Das ist viel zu wenig. Das war nicht der Kern der Verkündigung Jesu. Darüber hat er auch gesprochen. Aber sehr, sehr wenig. Sehr, sehr wenig. Es ging ihm um das Leben jetzt. Um die Erfahrung jetzt. Dass der Himmel und die Erde zusammenkommen. Dass der Himmel sich öffnet. Und Menschen eine neue Beziehung zueinander finden können.

Wir könnten auch sagen, da sind wir auch bei dem, was Sie immer wieder thematisieren, beim Primat der Liebe. Das ist das, was, wenn wir auf den Kern der Botschaft Jesu schauen, was da freigelegt wird. Das Reich Gottes ist zu entdecken, dass Gott die Liebe ist, in all ihren Dimensionen. Das umfasst auch die sexuelle Dimension. Aber natürlich nicht nur. Ich bin ja auch ein liebender Mensch, lebe aber nicht in einer Beziehung. Das ist etwas, was alles umfassen kann – kann und muss. Alle Beziehungen des Menschen müssen vom Primat der Liebe geprägt sein. Dann können sie von Gott angenommen werden. Das ist die Botschaft, die uns immer wieder neu deutlich werden muss. Und die wir vielleicht oft vergessen haben, weil wir eine bestimmte Diskriminierung vornehmen, Ausschlüsse vornehmen und meinen, wir könnten dirigieren und genau bestimmen. Wenn zwei Menschen sagen, ich liebe dich und der andere antwortet, ich dich auch.

Liebe Schwestern und Brüder, dass das Projekt des Reiches Gottes ein dynamisches nach Vorne hin ist, wird auch deutlich in den Texten, die wir eben gehört haben. Dieses archaische Bild des Abraham, der sich auf den Weg macht. Das geschieht alles ja auf freiem Feld, nicht in einer Kirche, in keinem Tempel. Komm heraus Abraham, schau in den Himmel, zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst. So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Und Abraham glaubte dem Herrn. Und der Herr rechnete es ihm als Gerechtigkeit an. Er wird die Erfüllung der Verheißung nicht selber erleben, aber er glaubt, dass er sich auf einen Gott einlassen kann, der mit ihm geht, der ihn nicht alleine lässt. Und dann kommt das hinzu, was vielleicht für die Gegenwart auch für den Weg der Kirche von großer Bedeutung ist. Dieses archaische Ritual mit den Tieren. Da verstehen wir gar nicht genau, was ist hier gemeint. Der Bundesschluss. Aber ein Element taucht dann auch im Evangelium auf. Das Element der Angst. Abraham überfällt eine unheimliche Angst in der Nacht. Warum? Weil der Bund auch immer wieder bedeutet, aufzubrechen; ein Wagnis einzugehen.

Das geschieht auch den Jüngern bei der Begegnung auf dem Berg Tabor. Die Wolke kommt und sie haben Angst auf einmal. Die Angst, aufzubrechen; die Angst, das Wagnis der Liebe einzugehen; die Angst, den Weg mit ihm zu gehen, auch wenn wir nicht genau wissen, wo wir landen werden. Die Sicherheit zu verlassen. Deswegen sage ich oft, eine synodale Kirche, von der der Papst immer wieder spricht, ist eigentlich der Botschaft vom Reich Gottes angemessener als das Bild einer Kirche, die eine Festung baut, eine Wahrheit dogmatisiert, und dann die Feinde von außen von sich fern hält, und Angst hat vor denen, die diese Zitadelle bestürmen könnte. Das sind auch große Bilder. In der Geschichte haben sie ihre Bedeutung.

Aber es ist nicht das, was eigentlich gemeint ist, dass wir immer neu aufbrechen; auch im Glauben; auch in der Suche nach den Möglichkeiten Gottes; auch in der Frage, was wir zur Sexualität zu sagen haben, was wir zu den Beziehungen der Menschen zu sagen haben. Dass wir weitergehen. Offen sind. Lernen. Spüren, was das Reich Gottes, die Zeichen des Reiches Gottes jetzt uns sagen können. Davor haben manche Angst, in der Kirche, auch persönlich. Es gibt viele die denken, und das kann ich verstehen, das ist nicht einfach vom Tisch zu fegen, in welche Unsicherheiten begeben wir uns, wenn wir nicht die Sicherheiten haben, an die wir uns gewöhnt haben; die uns unser festes Haus geben. Das wissen Sie aus Ihren Lebensgeschichten auch. Was bedeutet es, darüber zu sprechen? Wie empfinden das die anderen? Die Eltern? Die Freunde? Wie kann ich darüber wirklich so reden, dass sie mitgehen?

Liebe Schwestern und Brüder, das ist für mich ein wichtiges Anliegen, auch wenn wir über die Zukunft der Regenbogenpastoral, wie wir das so nennen, sprechen. Ich wünsche mir eine inklusive Kirche, eine Kirche, die einschließt. Die Predigt vom Reich Gottes, die Jesus immer wieder aufruft, ist eine inklusive Predigt. Er spricht in besonderer Weise gegen die, die ausschließen wollen, die Pharisäer, die Schriftgelehrten, die Priester und die Ältesten. Das sind die vier Gruppen, mit denen er sich auseinandersetzt. Die genau definieren wollen, wer dazugehört und wer nicht. Das ist die Auseinandersetzung, mit der er zu tun hat. Und er möchte alle einladen, mit dem Primat der Liebe. Selig, die arm sind vor Gott. Alle kommen. Die diese Haltung einnehmen. Die diesen Weg gehen wollen. Nicht ausschließen, sondern einschließen, alle die den Weg Jesu gehen wollen. Daran müssen wir immer wieder arbeiten. Das muss unser Ziel sein. Auch in der Verkündigung. Auch im Miteinander der verschiedenen Gruppen.

Diskriminierung ist ja nicht zu Ende, wie wir alle wissen. Wenn man selbst schon, Christen, Stimmen hört, weltweit auch, gerade im Blick auf die Gemeinschaft der Homosexuellen. Da bin ich erschüttert. Das ist nicht zu Ende. Wir haben gedacht, wir sind weiter. Wir müssen einen Weg gemeinsam gehen. Jeder kann seine Überzeugung haben. Das ist etwas, was ich nicht verbieten kann. Aber die Anerkennung und der Primat der Liebe, den kann ich nicht zur Disposition stellen, als Bischof. Das steht im Evangelium. Den kann ich nicht sozusagen in die Beliebigkeit hineingeben, das kann man so und so sehen. Das geht nicht. Und dafür müssen wir uns einsetzen. Das wollen wir miteinander tun. Wenn wir schauen, auf das was das Evangelium uns sagt, dann habe ich doch die große Hoffnung, dass die Kirche sich auf einen Weg macht und wirklich die Botschaft vom Reich Gottes so verkündet, dass sie spürt, dass wir miteinander spüren, die Möglichkeiten Gottes liegen noch vor uns. Zu meinen, in der Geschichte haben wir alles schon abgeschlossen, es kann nichts Neues mehr geben im Sinne von besseres Verständnis des Evangeliums; bessere Erkenntnis dessen, was die Kirche zu tun hat; auf ein tieferes Hineingehen in die Wahrheit über den Menschen; dann haben wir – glaube ich – den Weg nicht richtig beschritten. Die Dynamik, die darin steht, die Dynamik eben der OfOffenheit, ist das was den synodalen Weg auch bei uns prägen soll. Und das wird sehr kritisiert. Das wissen Sie. Es gibt auch […] Ich als Bischof muss versuchen, alle zusammenzuführen. Aber nicht stehen bleiben. Das geht nicht. Es ist ein Weg. Der Papst betont es auch. Und der Weg bedeutet, nach vorne gehen und entdecken, was der Geist uns heute zu sagen hat. Und da ist das, was wir gehört haben im Evangelium, für mich von ganz entscheidender Bedeutung. Mit ihm gehen und entdecken, in der Gestalt Jesu die Möglichkeiten Gottes, das was tiefer geht. Und dass wir auch in diesen Fragen weiter voran kommen.

Ein Letztes möchte ich sagen. Es ist schon einige Jahre her. Das war, ich glaube, in der Runde habe ich das auch erzählt, die bei mir waren aus der Regenbogenpastoral. Das war einen Tag vor dem Brexit. Da war ich in Dublin. Und da hat die Dublin-Times, glaube ich, ein Interview mit mir geführt. Das war gerade auch die Kampagne über die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Und der Reporter sagte dann, Herr Kardinal, wie sehen Sie das? Und da habe ich mir gedacht, als deutscher Kardinal darf ich mich jetzt nicht in die inneren Angelegenheiten Irlands einmischen. Das ist nicht so gut, glaube ich. Aber wenn Sie mich fragen würden, wie sehen Sie als Bischof der Weltkirche das Thema insgesamt? Dann würde ich sagen: Vielleicht wäre es gut, wenn wir am Anfang „Sorry!“ sagen. „Entschuldigung!“ Ich konnte das nicht mehr redigieren. Ich habe natürlich gehört, am anderen Tag war das am Titelblatt der Times, und hat sogar den Papst erreicht. Der wurde ein bisschen nervös, aber es ist alles gut gegangen. „Sorry!“ Und das möchte ich hier wiederholen. Das gilt für die ganze Gemeinschaft der Kirche. Sie alle wissen, wie schwer das ist, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Mein Gott, wenn ich daran denke, als ich vielleicht 10, 15, 20 Jahre war. 40 Jahre ist das her. Aber das wird weitergehen. Dass wir sehen, wie viele Verletzungen angerichtet wurden, in den Lebensgeschichten vieler Menschen. Das berührt mich. Ich hab das Buch durchgeblättert und zum Teil gelesen, KATHOLISCH UND QUEER. Ein Buch, das vor einiger Zeit im letzten Jahr erschienen ist. Und Lebensgeschichten drinstehen. Das berührt mich tief. Und dann denke ich schon, nicht nur jetzt als Bischof. Aber als Bischof habe ich ja die Verantwortung, auch für die ganze Kirche ein bisschen zu sprechen. Aber es haben viele mitgewirkt daran, an Diskriminierungen. Manchmal wussten sie es nicht besser. Aber es ist eine Leidensgeschichte auch. So viele Menschen. Das dürfen wir nicht vergessen. Umso wichtiger ist es jetzt aufzubrechen, um neue Weg zu gehen, mit der Sensibilität, mit der Offenheit, auch die miteinzubeziehen, denen es sehr schwer fällt, diesen Weg zu gehen. Darum bitte ich Sie. Ich weiß, sie könnten sagen, Herr Kardinal, jetzt reden Sie schon wieder von Geduld. Geduld ist zu Ende. Okay. Aber es ist nicht für alle einfach, den Weg zu gehen. Und ich möchte Ihnen zusichern, dass wir als Erzbistum versuchen wollen, eine inklusive Pastoral, nicht eine Sonderpastoral nur für bestimmte Gruppen, sondern dass die Gemeinden zusammenkommen, dass wir einander begegnen, dass sie angenommen sind, in den Pfarreien, wie wir es eben gehört haben. Dass sie dazugehören. Sie gehören dazu! Sie sind willkommen! Sie gehören zu uns! Und das müssen wir miteinander voranbringen, miteinander vorantreiben. Da stehe ich dafür ein und möchte das auf jeden Fall Schritt für Schritt erreichen, dass wir eine inklusive Kirche werden. Die Hoffnung haben wir. Das Zeichen der Hoffnung. Wir haben von Hoffnung gesprochen. Das Reich Gottes ist da, aber noch nicht vollendet. Aber es muss vorangetrieben werden. Versuchen wir es zusammen – zu tun.

Amen.

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